Thunfans » Spielberichte » Challenge League 2021/2022 » Winterthur - Thun
Winterthur - Thun 3:0
20.08.2021Challenge League 2021/2022


«Too casual, sir!» Mit diesen Worten wimmelt mich ein Türsteher am Eingang eines Nachtklubs in London ab. Wie bei meinen Kollegen stört ihn mein Thun-Outfit, das ich nach dem Spiel gegen Arsenal noch trage. Seitdem versuche ich immer an Spieltagen auf den Punkt genau angezogen zu sein, was gerade an Wochentagen nicht immer einfach ist, wenn zum Beispiel eine Bürositzung, ein Matcherlebnis in der Kurve und ein Hipstertreffen an der Aeschle Chilbi kurz hintereinander anstehen. Und doch bin ich vor heute erst ein zweites Mal von einem Türsteher gemassregelt worden: Als mich Uttiger bei unserem ersten Aufeinandertreffen mitten im Block Süd wegen meinen schwarzen Halbschuhen (Nein, sie hatten kein aufgenähtes YB-Logo) ausgeschimpft hatte, als seien schwarze Schuhe der Inbegriff des Satanismus. Also wer so ein engstirniges Bild von Mode hat, bekommt natürlich auch kein Lachen-Shirt von mir, gäu Uttiger.
Heute verwickelt mich nun aber in Winterthur zum dritten Mal ein Held der Eintrittskontrolle in eine Diskussion über mein Outfit: «Was soll das, FREE HONG KONG?». Er deutet auf den Aufdruck auf meinem Spreadshirt. Ich fürchte kurz, dass ich für Winti-Verhältnisse «too casual» oder schlichtweg «zu politisch» bin, aber der Typ ist typisch Winti an einer Diskussion über die chinesische Innenpolitik interessiert. Und ja, klar teile ich seine Meinung, dass die Uigurren-Lager in Xinjiang noch um ein Vielfaches schlimmer sind als die Meinungsdiktatur in Hongkong. Aber mit der Zwangsschliessung der letzten prodemokratischen Zeitung «Apple Daily» ist es nun mal definitiv vorbei mit der Illusion, dass China Demokratie kann und will. Und vorbei ist damit auch die Illusion, dass der Profifussball Demokratie kann und will. Auch nicht in Thun. Der FC Thun erhält jede Saison 300 000 Franken von einem Firmenkonstrukt aus Hongkong. Deshalb mein Shirt, dass ich schon in Châtel-St.Denis getragen habe und das mich künftig auf den selten gewordenen Matchbesuchen begleiten soll. Der Sicherheitsmann aus Winti findet meine Aktion cool und beginnt dann endlich auch mal mit der Zertifikatkontrolle. Als Bonus verzichtet er darauf, mich oder meine Tasche abzutasten. Pyro von mir würde wohl als politisches Statement geduldet.
Aber klar, heute zünden natürlich nur die Winterthur-Fans. Und die haben früh Anlass dazu. In der 3. Minute rennt Neftali Manzambi am schlaffen Marco Bürki vorbei Richtung Thun-Tor und schiesst gleich mal auf den Kasten. Könnte man halten den Ball, macht Hirzel aber nicht. Winti führt bereits 0:1. Und weiter geben die Wilden aus Winti Gas. In der 6. Minute erhält Samir Ramizi allen Platz der Welt von der Thuner Abwehr. Er schiesst völlig unbedrängt am Tor vorbei. Das 0:2 kommt dann aber doch noch. In der 31. Minute wird zum x-ten Mal Neftali Manzambi aus dem Mittelfeld lanciert und rennt mal wieder an der Abwehr vorbei. Wobei dieses Mal zumindest Nias Hefti mal ein Ausrufezeichen setzt: Er steht nämlich so doof, dass die vermeintliche Abseitssituation nun mal kein Abseits ist. Manzambi schiesst und trifft und die Winti-Elf rund um Roman Buess feiert direkt vor uns Thunfans und ein gutes Dutzend Thunfans rüttelt schon ein erstes Mal am Zaun und ich stimme ein «Hongkong Hongkong Hahaha» an. Das ist Chinesisch. Ihr könnt mich gerne auf TikTok fragen, was dieser Ruf auf Berndeutsch bedeutet.
Nach diesem Stimmungschaos wird es von Minute zu Minute ruhiger im Gästesektor. Erst dominieren noch Beschimpfungen gegen den längst verwarnten und rotgefährdeten Buess, doch dann verstummen auch diese mit der Zeit. Gölä will noch was für die Stimmung tun und auf den Zaun rauf. Aber irgendwie fehlt es ihm heute an Energie, an Kraft und an der letzten Motivation – ungefähr so wie sämtlichen Thunspielern auf dem Platz. Trotz unserer Unterstützung muss Gölä seine Kletteraktion abbrechen. Normalerweise würde jetzt Partykernen einspringen beziehungsweise aufspringen. Aber der ist heute so von den FC Winti-Sammelbechern mit den unzählig unterschiedlichen Motiven fasziniert, dass er lieber mit beiden Beinen in der Nähe des Bierstands bleibt.
Spätestens nach der Pause ist es vorbei mit der Stimmung im Gästesektor. Was ja aber auch ganz im Sinne des heiligen Gerber ist, der inzwischen das «Keine Gästefans in Thun»-Zeitalter bis mindestens zum Fulehung-Wochenende verlängert hat. Der Ticketverkauf für Thun-Xamax hat diese Woche begonnen, sämtliche Sektoren auf der (einstigen) Gästeseite der Arena Thun bleiben aber weiter zugesperrt. Und so werden halt anders als Muttenzerkurve, Südkurve und Ostkurve viele langjährige Thunfans – und zwar nicht nur Block Süd-Mitglieder – weiter Abstand halten zum eigenen Verein. Mittlerweile befürchte ich, dass die vielen SportXX-Banner im früheren Gästesektor eher noch durch Werbebanner mit chinesischen Schriftzeichen ersetzt werden als mit Fans, welche das Trikot einer Gästemannschaft tragen. Traurige Fussballrealität im Jahr 2021.
In der Pause wurde übrigens fleissig gewechselt. Kyeremateng und Havenaar ersetzen Schmidt und Hefti, bei Winti kommt Isik für Gantenbein. Der Clou: Gantenbein musste wegen Gelb raus, die beiden Thuner wegen schlechter Leistung. Auch ein Thuner hat schon Gelb: Grégroy Karlen. Doch weil er im Gegensatz zu vielen seiner Mitspieler wenigstens den Zweikämpfen nicht ausweicht, muss er zwingend auf dem Platz bleiben. Was sich an einem Abend wie heute natürlich rächt. In der 67. Minute trifft er den ständigen Unruheherd Samir Ramizi. Pfiff, Penalty und Gelb-Rot. Und als i(gitt)-Tüpfelchen tritt natürlich Roman Buess zum Penalty an. Er tritt den Ball easy (Ältere sagen Panenka-mässig) mitten aufs Tor. Und tatsächlich ins Tor. Auch Hirzel hat heute einen schwachen Abend.
Nun ist die Schützenwiese definitiv ein Festhaus. Pyro um Pyro wird in der Heimkurve gezündet, dazu kommen leider auch ein paar Scheiss Böller. Und die verteufle ich nicht nur wegen der chinesischen Feuerwerkstradition. Anti-Pyro-Durchsagen vom Speaker gibt es aber nicht, dafür die Bekanntgabe der Zuschauerzahl: 3600 Leute sind heute im Stadion. Fast 1000 Leute mehr als es jeweils an einem typischen Thun-Spiel sind. Aber Nein, beim FC Thun macht niemand Fehler mit Null-Geld-zurück-Deals und anderen Schikanen gegen uns Fans. Und der heilige Gerber schon gar nicht!
Nach fünf langen Nachspielminuten haben wir das Spiel endlich überstanden. Von der Haupttribüne werden dutzende leere Bierbecher auf den Rasen geworfen, entweder ist das eine Choreo-Spende oder ein seltsamer Winterthurer Brauch. Dagegen ist es eine Thuner Tradition, dass wenn einzelne Thunfans am Zaun ausnahmsweise einmal Kritik wagen gegen die Spieler, es gleich zu einem Handgemenge mit «Das Glas/der Bierbecher ist immer voll»-Fans kommt. «Ein Fan steht immer hinter der Mannschaft und dem Verein! Egal was ist!» lehrt uns ein junger Typ. Also ich bin ganz froh, hat es heute nur knapp 60 Leute im Thunsektor, von denen die meisten noch kritisch denken können. Wir leben hier zum Glück nicht in Hongkong!