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Lugano - Thun 2:3
26.07.2015Super League 2015/2016


Im Alter wird man zugegebenermassen etwas wehleidig. Zumindest als Mann. An einem Sonntag kurz nach Sechs aufzustehen, nur weil Thun heute im Tessin spielt, erscheint auch nach vielen Jahren verrückten Jahren als Fan irgendwie absurd. Und dabei habe ich am Vorabend die Einladung an Spiezer Seenachtfest noch dankend abgelehnt. Fakt ist: In all den Jahren bin ich nur ein einziges Mal an ein Meisterschaftsspiel ins Tessin gefahren. Ansonsten hatte ich immer eine Ausrede parat, deren Hintergrund immer dieselbe war: Eine Niederlage tut auf einer fünfstündigen Heimreise besonders weh. Deshalb ist das Tessin eigentlich bloss ein Cup-Reiseziel. Im Normalfall. Doch nicht an einem Tag wie heute, am 26. Juli 2015. Denn da ist noch die Erinnerung an ein Spiel, der just vor einem Jahr, am 26. Juli 2005 stattgefunden hat: Kiew gegen Thun. Und wenn ich damals 40 Stunden lang in einem schlecht durchlüfteten Car an meinem Sitz festgeklammert habe, kann ich doch bestimmt heute auch 5 Stunden in einem – seltsamerweise kaum besser durchlüfteten, wenn nicht sogar noch stickigeren – SBB-Wagon aushalten. Zumal für Stimmung gesorgt ist. Sassen damals im ukrainischen Gastarbeiterbus nebst Mätthu und mir nur lauter Gastarbeiter – das restliche Dutzend Thunfans flog damals lieber – sind heute gleich 65 Thunfans gemeinsam im Zug Richtung Lugano unterwegs. Darunter erstmals ein ganzes Dutzend Frauen. Ein Ciri Sforza-Effekt? Oder hat sich die Zahnbürste-Geschichte auch unter den weiblichen Fans herumgesprochen? Selbstverständlich sind aber die mitreisenden Frauen so brav wie du und ich. Ausser dass einige von ihnen ziemlich hartnäckig bunte «Thun on tour!»-Kleber verkaufen. Immer gleich im 10er-Block. Mann gönnt sich ja sonst nichts.
Es ist dann aber doch nur ein Gerücht, dass der gemeinsame Fanmarsch vom Bahnhof ins Stadion Teil einer Werbeaktion ist, um den Kleberverkauf in die Höhe zu treiben. Lugano wollte uns bloss keine Busse zur Verfügung stellen. Während einige Fans tatsächlich auf der 30-minütigen Strecke immer mal wieder mit einem Kleber die Adresslage verschiedener Strassenabschnitte aufbessern, haben Fanclublegende und ich genug damit zu tun, mit dem Laufschritt-Capo und seinen Jungs mitzuhalten. Denkt denn niemand an die Senioren!? Doch nicht nur wir alten Männer scheinen heute unter der heissen Mittagssonne Konditionsschwierigkeiten zu haben, sondern auch die mitfahrende Polizei. Wir stören uns ja eigentlich nicht daran, dass sich nebst anderen Behördenfahrzeugen auch ein Kastenwagen, dessen Türen die ganze Fahrt hindurch geöffnet sind, im Fanumzug eingereiht hat. Wir denken uns auch noch nicht viel, als plötzlich eine Petflasche voller farbigem Gesöff an uns vorbeirollt. Ein Polizist hat sie fallen lassen. Schnell ist sie wieder zurück im Kastenwagen. Dann hören wir aber ein dumpfes Geräusch. Und plötzlich bricht Hektik aus. Da liegt doch tatsächlich ein Gewehr auf dem Strassenasphalt. Hm…. also ohne den Tessinern Polizisten zu nahe treten zu wollen, bin ich mir ziemlich sicher, dass so ein Patzer israelischen Sicherheitskräften nicht unterlaufen würde.
Nicht ganz sicher ist man als Thunfan aber auch direkt vor dem Stadion, ungeachtet der grossen Polizeipräsenz. Kaum habe ich mich wegen der Marschstrapazen hingesetzt und mich an einen Baum gelehnt, schlägt direkt neben mir eine Glasflasche auf. Obwohl – oder weil – mich die Glassplitter knapp verfehlen, hat sich der Täter ein paar Ultrapunkte verdient. Ein gehässiger Luganesi, der sauer auf uns/mich ist? Von wegen. Einer von uns Thunern ist bloss zu erschöpft, sich an den Recycling-Knigge zu erinnern. Da freue ich mich doch, dass 90 Minuten vor dem Spiel der Eingang zum Gästesektor geöffnet ist. Im Stadioninnern kann es nur sicherer sein als auf Luganos Strassen. Wobei ich bei der Eingangskontrolle dann doch überrascht feststelle, dass der Sicherheitsmann eigentlich nur mein Portemonnaie akribisch genau durchsucht. Irgendwie merkt man immer noch, dass Lugano mehr Bankenstadt als Fussballstadt ist.
Das Stadion ist eher durchschnittlich gefüllt. Gerade mal 4700 Zuschauer wollen sich das erste NLA-Heimspiel von Lugano seit 13 Jahren ansehen. Sie bereuen ihre Anwesenheit aber nicht, jedenfalls nicht in der ersten Halbzeit. Thun verteilt nämlich auch in dieser Partie wieder früh Geschenke. Sieben Minuten sind gespielt, als Faivre zwar einen Ball abwehrt, die Gefahr dadurch aber noch nicht gebannt ist. Zino räumt nämlich im Strafraum so gründlich und überhart auf, dass Schiedsrichter San das Einsteigen gegen Bottani nur mit einem Penaltypfiff kommentieren kann. Und so kann sich Bottani den Ball auf den Elfmeterpunkt setzen und Anlauf nehmen. Der Schuss ist gezielt, doch Faivre scheint sich den Ball schnappen zu können. Wir wollen schon zum Jubel ansetzen, als der Ball dennoch im Netz landet. 1:0, Thun liegt mal wieder sehr früh im Rückstand – und bleibt auch weiter unter Druck. Gleich mehrere Szenen folgen, in denen ein weiteres Tor für Lugano machbar scheint. Es ist mehr Tessiner Unvermögen, als Thuner Kampfgeist, der in dieser Phase den Zwei-Tore-Rückstand verhindert.
Erst nach rund einer halben Stunde kommt Thuner besser ins Spiel. Erst hat Rojas eine gute Chance, dann Rapp und schliesslich nochmals Rojas. Für das 1:1 sorgt dann aber in der 40. Minute nicht etwa Kiwi-Messi, sondern der Wohlen-Ronaldo. Rapp spielt im Mittelfeld Doppelpass mit Buess und köpfelt dann im Strafraum zum 1:1 ein. Ein wunderschönes Tor, das Hoffnung für die zweite Halbzeit macht.
In der Pause steht aber erst einmal der Wunsch nach Abkühlung im Mittelpunkt. Während die dringend notwendige Erfrischung am Getränkestand nur mit viel Geduld zu haben ist, da das Catering mit rund 100 Thunfans ziemlich überfordert ist, geht’s am Zaun um Einiges schneller. Jener Security, der das ganze Spiel hindurch die Laufbahn bewässert (Nein, nicht den Rasen. Wirklich die Laufbahn!), duscht auf Wunsch auch uns Fans. Wobei er sich bei unseren Frauen jeweils besonders viel Mühe gibt. Manchmal sind sie ja wirklich gastfreundlich, die Tessiner.
Das mit der Gastfreundlichkeit gilt in der zweiten Halbzeit auch für die Lugano-Spieler, die leistungsmässig sichtlich abbauen. Anders die Thuner, die ihren Rhythmus halten können und weiterhin zu guten Chancen kommen. So in der 57. Minute, als Rojas bei einem Patzer von Lugano-Verteidiger Veseli am Schnellsten reagiert. Sein 16-Meter-Schuss landet im Tor. 1:2. Und auch in der 64. Minute, als die Lugano-Abwehr bei einem hohen Ball in den Strafraum so lange zögert, bis Buess sich den Ball schnappen und ihn über die Torlinie spedieren kann. 1:3. Und plötzlich ist die Thuner Fussballwelt wieder in Ordnung.
Zwar kommt Lugano in der Schlussphase noch zu einigen guten Chancen und – nach einem Foul von Schirinzi – in der 94. Minute durch einen Penalty von Rossini noch zum Anschlusstreffer. Doch als gleich danach Schluss ist, kann sich Thun als verdienter Sieger dieser Partie betrachten. Weshalb denn auch Spieler und Fans gemeinsam am Spielfeldrand feiern. Sicher auch ein klein bisschen die Tatsache, dass Thun mal wieder vor YB liegt.
Mit drei Punkten im Gepäck lässt sich etwas entspannter die fünfstündige Rückreise antreten. Wobei das Zeitfenster bis zur Zugabfahrt nur eine halbe Stunde beträgt. Der Grossteil der Fans versucht den Zug zu Fuss rechtzeitig zu erreichen, während sich Fanclublegende und ich dem kleinen Grüppchen der handicapierten oder ergrauten Ortsbusreisenden anschliessen. Bei beiden Gruppen ist das Resultat das selbe: Die Thuner treffen just in jener Minute am Bahnhof ein, als der Zug gemäss Fahrplan losfahren sollte. Wie das Leben so spielt natürlich von Gleis 3 aus und nicht von unserem Ankunftsort aus. Doch die Polizei reagiert blitzschnell, riegelt das halbe Bahnhofgelände ab und schickt uns dann tatsächlich über eine Abkürzung über die Gleise. Womit unsere Heimreise mit fünf Minuten Verspätung, aber in Vollbestand beginnen kann.
Die Reise wäre eigentlich angenehmer als jener Kiew-Trip vor 10 Jahren, würden da nicht zwei Gefahren lauern: Die Gefahr im Zug von Lugano nach Zürich wegen der schlechten bzw. gar nicht vorhandenen Lüftung einen Hitzekollaps zu erleiden. Oder die Gefahr, beim Luftschnappen in Arth-Goldau auf dem Perron von einem tollwütig-läufigen Velofahrer umgefahren zu werden. Schier unglaublich, wie der auf seinem Rennbike mitten durch unsere Grüppchen durchrast. Weswegen wir dann nach dem Umsteigen in Zürich sicherheitshalber in unserem Abteil ein Fenster aufschrauben. Das hält die Hitze fern – dass es im Mittelland regnet, nehmen wir irgendwie nicht wahr – und bestimmt auch läufige Velofahrer. Von diesen Kleinigkeiten abgesehen, bedanken sich aber Fanclublegende und ich beim Block Süd für die toporganisierte Reise. Da fällt vor der nächsten Tessinreise bestimmt dann auch das Aufstehen leichter.