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GC - Thun 0:3
19.05.2007Super League 2006/2007


Heute bin ich verliebt in Zürich, Teil eines ganz normalen Liebespaars. Wobei: Wir sitzen nicht etwa an der Limmat oder am Zürichsee, sondern am Escher-Wyss-Platz. Und wir schauen daher auch keinen weissen Schwänen zu, wie sie übers Wasser gleiten, sondern den blauen Züri-Trams, wie sie über die Schienen rumpeln. Die tiefergelegten Fahrzeuge nennt man Kobras, das weiss ich mittlerweile. Die Trams tragen die Nummer 4, fahren Richtung Hardturm und sind vereinzelt mit Fussballfans gefüllt. Noch anderthalb Stunden dauert es bis zum Spiel. Von der berüchtigten Zürcher Fussballeuphorie ist aber nichts zu spüren. Es spielt halt heute „nur GC“ gegen ein Thun, das „nur noch in der NLA spielt“. Fussballalltag ohne Modefans eben. Ein Fussballalltag aber, der Fussballverrückte wie meine Freundin und mich geradezu in eine romantische Stimmung versetzt. Wir sprechen so euphorisch und voller Glücksgefühlen vom möglichen Meistertitel für den FCZ und vom möglichen vorzeitigen Ligaerhalt für den FCT, als gäbe es gar keine andere Lebensfreuden, die ein verliebtes Paar teilen kann. Jedenfalls nicht so kurz vor zwei wichtigen Fussballspielen.
Da kommt ein GC-Fan mit Sonnenbrille zu unserer Sitzbank. „Heute gehts für Thun um nichts mehr, oder?“ „Doch wir brauchen noch einen Punkt für den Ligaerhalt.“ „Einen Punkt. Dann gewinnt doch dieses Spiel.“ Er meint es nicht etwa abschätzig, sondern offen und ehrlich. Und schon geht er wieder zurück an den Strassenrand.
Das nächste Tram kommt, Abschiedsküsse. Jetzt wollen wir an unseren Spiele. Ich ins Stadion, sie vor den Fernseher. Sie spart schon für den Meistertitel – am Mittag hat sie am Bahnhof für 63,15 Franken einen Sitzplatz für den Donnerstag gekauft. Ich dagegen bin ja vom FC Thun quasi „eingeladen“. Gratiseintritt ins Stadion, falls ich mich einmal mehr als SMS-Berichterstatter bewähre. Bislang habe ich diese Saison kaum nennenswerte Fehler gemacht und mich höchstens einmal in der Spielminute geirrt, wenn die Sicht auf die Stadionuhr nicht frei war. Einer Vertragsverlängerung sollte also nichts mehr im Wege stehen.
Im Stadion bemühe ich mich noch um ein Matchmagazin. Doch weil die Heftverkäufer plötzlich unmotiviert in den Heimsektor hinübergehen, obwohl ich ihnen doch Minuten zuvor sagte, ich wolle noch ein Heft kaufen, muss ich improvisieren. Der Thuner Sicherheitschef hilft mir dabei und holt mir ein Heft – aus der Thuner Garderobe. Beim Durchlesen des Heftes erfahre ich: Nach 18 Jahren und 363 Ausgaben ist es das allerletzte GC-Matchmagazin – infolge einer „Konzeptänderung“. Mangels Leser bzw. Zuschauer könnte man wohl auch sagen. Künftig gibt es wieder in bester 1. Liga-Tradition einen Matchflyer. Wenn das Lektorat in den vergangenen 18 Jahren auch so schlecht gearbeitet hat wie heute, ist die Einstellung des Heftes kein grosser Verlust. Wie steht doch auf der Seite der Mannschaftsaufstellungen: „FC Sion: 1 Bettoni Patrick. 18 Portmann Alain. 22 Stulz Sascha…“ Da entspricht doch das neue Fussballmagazin Zwölf, das vor dem Stadion für fünf Franken verkauft wird, schon eher meinem Lesebedürfnis. Auch wenn es darin eine Rubrik namens „Weisch no“ über die YB-Meistermannschaft 1985/1986 hat. Hm… Da ist die Schlussrangliste doch schon interessanter als das Bild eines jubelnden YB-Captains. Damals war Xamax noch Vizemeister und selbst Teams wie Wettingen, La Chaux-de-Fonds, Vevey, Grenchen und Baden spielten in der NLA. Längst sind all diese kleinen Teams abgestiegen.
Abstieg… der Gedanke an dieses Schreckensszenario bringt mich in die Gegenwart zurück. Heute muss Thun unbedingt punkten. Zugegeben, es ist nicht das Spiel der letzten Chance. Eine allfällige Barrage sowie das Spiel Schaffhausen – Aarau miteinberechnet, ist es nur das Spiel der viertletzten Chance. Und trotzdem: Die Anspannung ist gross, Thun muss doch möglichst schnell den Ligaerhalt schaffen. Im Rucksack liegt mein „Hurra mir si im A“-T-Shirt.
Die Teams kommen auf den Platz, Blumen werden verteilt an den abtretenden GC-Trainerstab, die Spieler stellen sich auf. Jetzt gilt es ernst. Was können wir Fans da nur tun? Wir zittern, bevor der Ball schon nur das erste Mal rollt. Wir schreien. Erst sind die Anti-GC-Gesänge unnötigerweise in Überzahl, mit dem Anpfiff wird dann aber Thun verbal angepeitscht. „Auf geht’s Thuner kämpfen und siegen…“ Wer geht in Führung? Schiesst Thun heute überhaupt ein Tor? Und Rama, der spielt ja heute gar nicht… Das Nervenflattern auf den Rängen ist wirklich kaum auszuhalten, obwohl Thun gut spielt, obwohl Thun schnell zu einem schönen Angriff kommt. Jungstürmer Bühler ist am Ball… er läuft… er dribbelt… er läuft… Ja, schiess doch endlich, immer dieses Zögern der Thuner Stürmer… Er schiesst – und trifft! In der 7. Minute führt Thun im Hardturm mit 0:1.
Wie gesagt, ein Punkt würde zum Ligaerhalt reichen. Aber was ist schon ein einziges Tor in einem Auswärtsspiel, die Heimmannschaft kann jederzeit erstarken und das Spiel kippen. Doch GC spielt heute schlecht. So wagen die Capos bei uns gar das Lied anzustimmen „Alle schiessen Tore nur Ailton nicht, der kann das nicht, der ist zu dick…“ Mit seiner Trefferanzahl wäre Ailton übrigens klarer Topskorer bei Thun.
Auch andere Lieder zeugen von Humor. So wird sogar angestimmt „Sex vor der Ehe, mir singe Sex vor der Ehe..“ Da meint Mätthu neben mir: „Schön wärs…“ Er behauptet aber sogleich, einen anderen Spruch kommentiert zu haben.
„Noch 0:1“ melde ich meiner Freundin nach rund einer halben Stunde. Ich habe ein ungutes Gefühl, füge ich hinzu. Und dann spielt sich vor unseren Augen eine wundersame Szene ab: Bei einem weiten Ball Richtung GC-Tor prallt ein Spieler mit Coltorti zusammen. Stürmerfoul, doch klar!? Der Ball fällt zu Boden. Der Thunspieler daneben rührt sich nicht. Da nimmt Dosek den frei liegenden Ball und schiesst ihn ins leere Tor. Was? Wie? Erst beim Blick auf die am Boden liegenden Fussballer erkenne ich: Ein GC-Spieler, Langkamp, ist mit Coltorti zusammengestossen. Kein Foul also, auch kein Spielunterbruch. Das Tor zählt. Thun liegt 0:2 in Führung. Wiiiiiiiiiiiiiiiiiiihuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu. Gleichzeitig auch eine frohe Botschaft aus Zürich. Der FCZ führt 1:0 gegen YB. Fussball kann ja so schön sein.
In der Pause wird natürlich angeregt getrunken – und angeregt diskutiert. Die Resultattipps gehen von 0:5 bis 2:2. An den Ligaerhalt glauben nun fast alle. Einige Siegeszigarren werden geraucht, die Schnupftabakliebhaber müssen teilweise noch die Tor-Prisen nachholen. Nach der Pause macht gar ein Schmink-Set die Runde durch die Fankurve. Die Wangen rot-weiss schminken? Igitt, so dämlich. Was soll’s, auch ich mache mit.
GC glaubt wohl nicht mehr an den Sieg. Anders kann ich mir die Szene in der 48. Minute nicht erklären. Langkamp, der wilde Spieler der 0:2-Szene, geht (nein schleicht!) vom Spielfeld. Würde so kurz nach der Pause ein Thunspieler so langsam vom Feld gehen, das Heimpublikum würde zurecht über dieses Zeitschinden fluchen und eine gelbe Karte fordern. Aber hey, GC liegt doch 0:2 hinten.
Thun hat auch in der zweiten Halbzeit das Spiel im Griff. Einige Angriffe gelingen GC zwar schon, aber mehr als ein Pfostenschuss und eine tolle Portmann-Parade haben sie nicht zu beklagen. GC ist ganz schön dick.
Wir zählen jetzt vor allem die verbleibenden Spielminuten – und die verbleibenden GC-Fans. „2300 Zuschauer“ lautet die offizielle Zuschauerzahl. Immerhin, jene Hoppers, die im Stadion sind, machen weiter Stimmung, wobei der Lärmpegel gegen Spielschluss gar noch ansteigt.
Dabei hat doch Thun in der 67. Minute wieder eine Torchance. Ferreira greift an und schiesst aus frecher Distanz am Strafraumrand an Gegenspieler und Torhüter vorbei ins Tor. 0:3. Unbeschreibliche Euphorie in der Thuner Kurve. Selbst ich bin wie von Sinnen. Und ausgerechnet jetzt muss ich wieder eine Tor-SMS schreiben. Ich nehme meine SMS-Vorlage, ändere Spielminute und Torschützen. Schnell abgeschickt… und noch während dem Versenden bemerke ich, dass ich ausgerechnet beim allerletzten Tor-SMS der ganzen Saison (bei Heimspielen habe ich mit den Resultatmeldungen nichts zu tun) einen Riesenbock geschossen habe: Verdammt, ich habe ja 0:1 geschrieben. Bin ich mich Thuner Tore mittlerweile so wenig gewohnt, dass ich nicht mehr auf Drei zählen kann. Prompt ruft mir der Capo zu: „Hey, es ist gar nicht 1:0.“ Hey, ich habe gar nicht gewusst, dass der Capo meine SMS braucht, um überhaupt zu wissen, dass Thun ein Tor erzielt hat… Ein kleiner Trost bleibt mir: Der GC-Fan, der im Stadion die Anzeigetafel bedient, ist noch unseriöser als ich. Es ist wohl grosser Galgenhumor, dass dort statt 0:3 0:9 steht. Doch von uns Thunern bleibt dieser Scherz lange unbemerkt, wir sind am Feiern. Wie fragt mich doch meine GC-Kollegin per SMS: „Au da?“ „Ja, bi grad ir Thuner Polonaise.“
Feiernd geniessen wir die letzten Auswärtsspielminuten der Saison. Derweil fallen in Bern die Tore im Minutentakt: 1:1, 1:2, 2:2… Mit Kumpel Michu diskutiere ich kurz über den Spielverlauf. Plötzlich fragt er mich: „Wo spielt eigentlich der FCZ? Zuhause?“ "Ja, weisst du..." Und plötzlich meldet sich meine Freundin in bester Stimmung. In der 89. Minute hat Abdi für den FCZ das 2:3 geschossen. Der Zürcher Stadtklub holt sich drei wichtige Auswärtspunkte.
Als in Bern noch die Nachspielzeit läuft, wird "das Spiel in Thun" (ach, wir fühlen uns wie Zuhause) schon abgepfiffen. So unerwartet früh übrigens, dass ich mein Handy vor den Bierbecherwürfen gar nicht mehr richtig in Deckung bringen kann. Ansonsten ist mir die Bierdusche bis auf die nassgewordene Schminke egal. Mein „Hurra mir si im A“, das ich seit dem 0:3 wieder voller Stolz trage, ziehe ich sogleich wieder aus und halte es jubelnd gegen den Zaun. Hinaufklettern wage ich nicht, ich bin lernfähig. Mit den Spielern kann ich ja auch so mitjubeln. Erst eine Welle sitzend am Boden, dann eine Welle stehend. Laute Jubelschreie und der tolle Gesang „Nie meh, nie meh Nati B, nie meh, nie meh Nati B.“ Da singt selbst die Mannschaft mit. Als Minuten später, wir sind immer noch singend und diskutierend im Gästesektor, der Ruf erschallt „Es git Freibier am Bierstand!“, ist der Abend für mich perfekt. Ich schnappe mir an der Theke gerade noch das allerletzte Bier, juhu!