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Thun - St. Gallen 5-1
14.10.2005Super League 2005/2006


Derzeit lese ich das Buch „Fever Pitch“ von Nick Hornby. Er erzählt darin in kurzen Kapiteln von Fussballspielen, die einem Arsenalfan besonders in Erinnerung geblieben sind. „Spielberichte“ zwischen 1968 und 1992 kann man nachlesen. Es ist ein grosses Vergnügen, wobei ich als fanatischer Fussballfan oftmals peinlich berührt bin.
Vielleicht würde ich besser meine Spielberichte auch 25 Jahre nach Abpfiff schreiben. Dann könnte ich mir die wöchentlichen Bemühungen, auch den langweiligsten Spielen und klarsten Niederlagen etwas besonderes abzugewinnen sparen. Das aktuelle Spiel, der Match gegen St. Gallen, dürfte aber im Buch „Fever Pitch – Die FC Thun Version“ anno 2030 nicht fehlen.
Es ist nämlich wirklich ein denkwürdiger Abend, auch wenn für einmal nicht ein gefülltes Stade de Suisse und die ganze Fernsehschweiz mitfiebern. Auch vor 5000 Zuschauern können tolle Fussballspiele stattfinden. Thun spielt heute nämlich endlich wieder im Lachenstadion – es ist die Rückkehr der Mannschaft, aber auch der Fans nach zweimonatiger Hochwasserpause. Dass ausgerechnet an diesem „Endlich wieder hier“-Abend von engagierten Fans „Zukunft Thun – Thun Süd/Lachen JA“-Flugblätter verteilt werden, scheint auf den ersten Blick ein Frevel zu sein. Man sollte doch besser erst diesen Abend im Lachen geniessen, bevor man (zu recht!) für ein neues Stadion wirbt. Aber die Zeit drängt halt, der Alptraum eines möglichen Abstimmungsnein rückt immer näher.
Trotzdem… im Stadion drin geniesse ich mit allen Sinnen die Lachenatmosphäre. Nach all den „Auswärtsspielen“ in Champions League, Meisterschaft und Schweizer Cup merke ich erst, wie sehr ich doch das Heimstadion vermisst habe. Der Thuner Fanblock mag nur aus wenigen Stufen bestehen, die erst mit Kieselsteinen und dann bald mit Zigarettenstummeln und Bierbechern überstreut sind, ich fühle mich hier aber mehr Zuhause als irgendwo sonst. Dass neben mir, aber auch vorne und hinten und irgendwie überall in der Fanmenge gute Kumpels von mir stehen, verstärkt natürlich dieses Zuhause-Gefühl noch. Und „ich hole uns mal Bier“ ist unter Fans seit jeher eine ganz spezielle Liebeserklärung.
Ein Becher pro Thuner Tor, ist so eine Faustregel unter den Fans. Doch in der ersten Halbzeit scheitert fast jeder Fan an dieser Vorgabe. Denn auf dem Spielfeld ist heute echt der Wahnsinn los. Thun ist klar überlegen und münzt diese Dominanz praktisch im Minutentakt in Tore um. Die Angriffszüge wirken so einfach und souverän, dass einige von uns Fans beruhigt die vergangenen Wochen in einem Schwatz besprechen können. Da ist es eine natürliche Folgeerscheinung, dass auch schon mal ein Tor verpasst wird. Ich habe beispielsweise in der 6. Minute den Kopf vom Spielfeld abgewendet, als Ferreira scheinbar ein Traumtor erzielt. Dafür sehe ich in der 12. Minute genau hin, auf 2-0 erhöht. Beim 3-0 in der 27. Minute sehe ich noch gerade knapp, wie der Ball von Lustrinelli im Tor landet. Beim 4-0 von Gelson in der 31. Minute kann ich dann wieder den ganzen Spielzug bewundern.
4-0 nach einer halben Stunde! Als ich dies einem Fribourg-Gotteron-Fan melde (wenn mein zweitliebster Sportverein doch nur annährend so erfolgreich wie Thun wäre!), meldet der sich verblüfft: „Gegen wen? Ist fertig?“
Vorbei ist das Spiel noch lange nicht und plane ich schon, wo dieser tolle Fussballabend gefeiert werden soll. Die „Mission Kiesen“ beginnt. Ich brauche einen Fahrer. Nach zwei Bechern Bier (mein Rückstand auf das 4-0 ist klar erkennbar) will ich mich nicht selber als Fahrer versuchen. Mario Schilt und seine ständig gut gelaunte Crew sind meine ersten Hoffnungsträger. Doch der vermeintliche Fahrer ist lieber in Emmenmatt. Weiter überlegen.
Sanel wäre bereit, mich zu fahren – falls ich ein Auto zur Verfügung stelle. Nüchtern ist er tatsächlich, was aber bei einem 4-0 ein schlechtes Zeichen ist. Er hat Kopfweh, was leider auch Auswirkungen auf den ganzen Fanblock hat. Verständlicherweise ist er in diesem Zustand nicht während 90 Minuten Capo, nur kurz steigt er auf die Hecke. Das Fehlen des Capos zeigt auf eindrückliche Weise die Wichtigkeit von ihm und anderen Fangrössen. Stimmung herrscht bei einem 4-0 natürlich auch ohne Anfeuerungsrufe wie „Alli Händ ufe“ und „Alli pfiffe“. Doch die Fans stimmen grüppchenweise ihre Lieder an. Immer sind zwei, drei verschiedene Lieder gleichzeitig zu hören. Das ist zwar recht laut, aber halt doch nicht ideal.
Ein fünftes Tor können wir noch bejubeln. Ferreira erzielt es in der 62. Minute. Fünf Tore Vorsprung gegen ein Team, gegen das man Anfangs Saison 1-5 verloren.
Damals gab es einen kleinen Skandal, weil Thunfans bei der Welle mitgemacht haben. Wie verhalten sich nun die St.Galler. Beim Stande von 0-5 aus ihrer Sicht wird ein erstes Mal gezündet. Das „Feuerwerk“ sieht wie ein Zuckerstöckli aus und gefällt auch mir. Wenige Minuten später wird in grösserem Stil gezündet. Jetzt fliegt Pyro auf die Laufbahn. Das ist nun wirklich idiotisch. Rauch zieht durch das Stadion.
Ob Kevin wegen der schlechten Sicht gar nicht bemerkt, dass Thun gar nicht 5-0 gewinnt, sondern „nur“ 5-1? Hassli schiesst nämlich in der 90. Minute noch das 5-1. Eine Resultatkorrektur, die das Fest von uns Fans nicht schmälern kann.
Ich suche immer noch meinen Weg nach Kiesen. Kevin schlägt die Variante „Zug und Fussmarsch“ vor, was mich nicht gerade begeistert. Ich hoffe noch Hoffnung auf Mätthu als Fahrer, ein Denkfehler. Er hat ja vor dem Match schon gesagt, dass er gleich nach dem Abpfiff gehen müsse. Ich musste während dem Spiel nicht nur für mich, sondern auch gleich für ihn eine Arsenal-Thun-DVD aus der legendären Suleyhund-Collection abkaufen. Nun aber hat Mätthu doch noch Zeit, lange im Fanblock zu bleiben…
Mein Mami ist schliesslich meine Kiesen-Rettung. Nachdem sie sich endlich aus der Fanforum-Jan-Umarmung gerettet hat (such dir doch besser mal eine Frau in deinem Alter, Jan!), kann ich sie tatsächlich dazu überreden, Kevin und mich mit dem Auto nach Kiesen zu fahren.
Und so stehen wir plötzlich tatsächlich mit unseren Thun-Schals direkt vor der Festhütte. Nach fünf Minuten sind wir von beiden Partyfotografen abgelichtet, die Feier kann beginnen. Leider hat es wenig Leute – die „FC Thun Griechin“ und einige übermotivierte YB-Fans einmal abgesehen. Dabei muss man eine Tanzfläche mit viel Platz geniessen, schliesslich ist der Sound gut und der 1-Liter-Bierkrug in der Hand sorgt für genügend Energie. Und alle 30 Minuten „Hopp YB“-Gesänge anhören zu dürfen, ist doch die Krönung beim Feiern eines Thuner Kantersieges.
Ja, ich denke heute abend wirklich einfach an Fussball. Doch als ich einmal ein paar Minuten an einer Bar sitze, kommt tatsächlich ein Girl, das sich zuvor mit zwei Typen unterhalten hat, auf mich zu. „Warum schaust du immer zu mir hinüber? Oder bist du schwul?“ Zu ihrer Enttäuschung muss ich ihr sagen… dass ich sie bisher gar nicht bemerkt habe.
Schwul bin ich nicht – auch wenn ich die ganze Nacht mit Kevin verbringe. Um 3 Uhr ist die Party zu Ende, die „Heimreise“ treten wir zu Fuss an. Aus dem Wald heraus geht auf die Hauptstrasse Richtung Bahnhof Kiesen, bei dem fast einstündigen Marsch müssen wir uns natürlich mehrmals verpflegen. Mal ist es ein Salatkopf, mal ist es ein Schokodrink, dank jenem Geld kaufen kann, dass er in einem Selecta-Automat-Münzfach gefunden hat. Und bei einer Tankstelle in Kiesen finden wir tatsächlich schon die Zeitungen vom Samstag. Sie schreiben gut über Thun.
Etwa Viertel nach Vier sind wir am Bahnhof Kiesen, dessen Wartehäuschen zum Glück geöffnet ist. Und da das Licht erst eine Stunde später eingeschaltet wird, können wir auf den Bänken etwas schlummern. 5.19 kommt der Zug, bald sind wir in Münsingen. Ich schaue mir dann bei meiner Heimkehr doch nicht mehr wie eigentlich geplant die Arsenal-DVD an, auch wenn dies den Kreis zu Nick Hornby schliessen würde. Aber auf ARD beginnt um 5.55 noch die allerletzte Folge von Nils Holgersson – das ist natürlich auch ein Muss. Um 6.20 gehe ich dann endlich ins Bett – etwa zur gleichen Zeit wie nach Thun-Kiew und nach Thun-Malmö. Ob es bei Nick Hornby auch ein „Schlaflos wegen Fussball“-Kapitel gibt?

Matthias Engel