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St. Gallen - Thun 2:1
20.05.2015Super League 2014/2015


Als ich vor dem Spiel auf dem Stadiongelände den Weg Richtung Gästesektor einschlage (mit den Füssen, nicht mit den Fäusten), werde ich von einem höflichen, aber bestimmten Sicherheitsverantwortlichen abgefangen. «Wollen Sie wirklich in den Gästesektor!?» fragt er mich sinngemäss in einem dieser schwer verständlichen Osteuropäischen Dialekten. Meint er etwa, mit meinem Wollmantel trage ich für Ostschweizer Verhältnisse bereits ein VIP-Tenü? Oder hat er seit dieser Woche endgültig das Gefühl, dass wer nicht vermummt vor der ABC-Arena auftaucht, gar kein Ultra sein kann und dementsprechend zwingend auf einen Sitzplatz gehört? Gut möglich aber einfach auch, dass er mich schlichtweg von einem früheren Spiel erkannt hat. Ja, letzten Oktober habe ich mich tatsächlich neben dem Thunsektor platziert, um nach dem Cupmatch noch rechtzeitig ins Oberland zurückzukehren. Aber bei der heutigen, viel früheren Anspielzeit und dem Kehrauscharakter der Partie werde ich bestimmt den Zug auch aus dem Gästesektor noch rechtzeitig erreichen. Der FCSG plant ja nicht etwa einen… «Derzeit planen wir einen 30-minütigen Fanrückhalt», erklärt mir der ABC-Angestellte. Ob diese Sicherheitsmassnahme wohl davon abhängt, wie schnell ich meine Bierdose austrinke? Ich trotz (seiner) Sicherheitsbedenken zum Gästesektor und stelle dort erstaunt fest, dass es dort neuerdings Schliessfächer hat. Endlich setzt der FSCG also sein Versprechen, gastfreundlich zu den Auswärtsfans zu sein, wirklich um. Sympathisch, was man hier für einen Biervorrat für die Rückreise anlegen könnte. Oder richtet sich das Angebot etwas explizit an Einkaufstouristen? Darauf bin ich selber nicht mehr angewiesen, seit im Bahnhofladen in Münsingen direkt vor meiner Nase auch Schützengarten verkauft wird - wobei mir der Grund für diese Sortimentserweiterung bis heute nicht ganz klar ist. Hat der Kanton St. Gallen keine anderen Exportprodukte, mit denen er die Restschweiz beglücken könnte?
30 Sekunden später stehe ich – ohne Abtasten – im Stadion und halte einen Becher Schützengarten in der Hand. Und nur 30 Minuten später, mittlerweile zeigt die Uhr etwas mehr als 19 Uhr, gesellt sich im Gästesektor bereits ein zweiter Thunfan zu mir. Die Chancen stehen also sehr gut, dass wir einen Negativauswärtsrekord mit Bravour abwenden können: Am 13. März 2013 waren wir genau vier zahlende Thuner in der ABC-Arena. Und tatsächlich sind wir mindestens drei Dutzend Thuner, die um viertel vor Acht weniger den strömenden Regen als die stürmenden Thuner im Stadion begrüssen. Unser lauter Support gibt aber etwas unter gegen die grüne FSCG-Wand auf der anderen Stadionseite. «Kai Bock» hat also die Heimkurve. 15 Minuten Stille, 15 Minuten keine Fahnen. Und all das nur wegen fünf Niederlagen in Serie? Wir Thuner dagegen haben bestimmt weit bessere Gründe, warum wir keine Schwenkfahnen und kein Megaphon eingepackt haben… Es kann sich nur um einen Protest gegen die Ostschweizer Bratwurstkultur handeln. Oder ist jemand sauer, dass wir mal wieder nicht Meister geworden sind?
Platz 3 wäre eigentlich schon das Höchste unserer Gefühle. Nur wird dieses Vorhaben nach einem Schiripriff in der 34. Minute um einiges schwieriger. Bei einem Zweitkampf zwischen Sulmoni und Karanovic entschiedet Schiedsrichter Bieri auf Penalty. Und Tafer verwandelt diesen ziemlich frech mit einem Schuss in die hohe Ecke. 1:0. Obwohl Thun doch hier weit bissiger auftritt als normalerweise auf Auswärtsreisen. Es gefällt, wie die Thuner immer wieder nach vorne stürmen und Chancen herausspielen. Und ausser Karlen würden wir tatsächlich auch allen Spielern ein Tor zutrauen. Noch erfreulicher ist, mit welcher Härte die Thuner zur Sache gehen. Dass da nach Bieri-Massstäben bald einige Thuner rotgefährdet ist, soll uns nicht weiter kümmern. Heute sehnen wir endlich wieder einen Fussball, der wenig mit den Champions League-Tänzen à la Barcelona oder Real zu tun hat. Das hier ist doch die bessere Partie als all die Champions League-Partien, die wir uns an den letzten beiden Mittwochen angesehen haben. Nun ja, dass Schützengarten scheint zu wirken. Und so nehme ich gleich noch einen Becher. Wobei es ja Thunfans geben soll, die tatsächlich so ein wertvolles Bier lieber herumwerfen. In der 67. Minute ist es mal wieder so weit. Da schiesst Rojas das längst überfällige 1:1. Die Vorlage kam vom erneut starken Ferreira.
Genug Schützengarten hat aber auch der Speaker intus. Als Urs Fischer Munsy für Karlen ins Spiel bringt, spricht das FSCG-Sprachrohr doch tatsächlich vom ersten Wechsel des FC Aaraus. Ist das psychologische Kriegsführung? Soll hier das Gästeteam etwa so klein geredet werden, dass der FCSG weiter daran glaubt, dass hier noch ein Sieg drin liegt? Für uns jedenfalls Anlass genug, das Weisse Socken-Lied zu singen. Und eine kleine Sockenkontrolle zeigt, dass diese Modesünde sogar in besten Thuner Verhältnissen vorkommt. Da freue ich mich doch schon auf die Einladung zu einer White Socks Only-Partie.
In den Schlussminuten zückt Schiedsrichter Bieri doch noch einige Karten, auch Rote. Erst sieht Besle in der 87. Minute nach einem Foul an Ferreira Gelb-Rot. Und dann muss in der 89. Minute auch unser Hediger wegen einem Foul an Dejan Janjatovic vom Platz – ebenfalls Gelb-Rot. Was Janjatovic zu einem Abschiedsgruss veranlasst, der von Bieri mit einer Gelben Karte gewürdigt wird. Als ob es irgendeinen Grund geben würde, diesem Janjatovic besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Viele St. Galler Sitzplatzfans verlassen ohnehin schon nach dem Besle-Rot das Stadion. Auch ich packe meine Sachen zusammen, als gerade mal drei Nachspielminuten angezeigt werden. Was soll denn da noch schiefgehen, zumal Thun noch die Möglichkeit zu einem dritten Wechsel hat. Ich prüfe schon mal unten beim Verpflegungsstand, ob die 30 Minuten-Regel nun gilt oder ob doch das Drehkreuz in Betrieb ist (leider nein) und schaue nur noch so nebenbei auf den kleinen Fernseher, der einen letzten St. Galler Angriff zeigt. Ich sehe nicht mal, wie Janjatovic den Ball Richtung Faivre tritt, dafür aber einen wild herumhüpfenden Saibene. Da hat doch nicht etwa dieser FSCG-Kerl aus dem Mittelfeld heraus ein Tor erzielt? Also schnell wieder rauf auf die Stehplatzrampe, wo mir tatsächlich von einem 25 Meter-Sonntagsschuss erzählt wird. Und ein Broncho klärt mich noch auf, dass es sich noch lange nicht um einen 30 Minuten-Fanrückhalt handelt, nur weil ich nicht fähig sei, ein Tor von ihnen zu öffnen. Und tatsächlich: Sekunden später habe auch ich meinen Janjatovic-Überraschungsmoment. Der bringt mir zwar keine drei Punkte ein, aber immerhin noch rechtzeitig die Fahrt an den Bahnhof Gossau. Auf der Fahrt dominieren unter den FCSG-Fans zwei Gesprächsthemen. Thema Nummer 1: Wie konnte Blick bloss Janjatovic zum besten Spieler wählen. Thema Nummer 2: Ich kann am Pfingstmontag wohl nicht ans Spiel, will jemand mein Abo? Die ganz grosse Fussballeuphorie ist in St. Gallen demnach noch nicht zurückkehrt – weder in vermummter, noch in unvermummter Gestalt.