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Arsenal - Thun 2-1
14.09.2005Champions League 2005/2006


Oh mein Gott, das ist doch Fussball verrückt. Da gehe ich doch tatsächlich ins Büro vom Chef, um 3 mal 3 Freitage zu beantragen, um bei allen Champions League-Auswärtsspielen des FC Thun dabei sein zu können. London, Amsterdam, Prag – eine geradezu wahnsinnige Europatournee die auf die Spieler, die langjährigen Fans und nicht wenige Gloryhunters wartet. Vorausgesetzt der Chef ist einverstanden. Remo beispielsweise pokert hoch und verliert. Er bucht nämlich die Londonreise, bevor er grünes Licht vom Chef hat. Und prompt wird ihm das Freinehmen verweigert. Ganz schön fies. Mein Chef dagegen ist weitaus aufgeschlossener. „Ich kann ihnen diesen Wunsch doch nicht verwehren“, meint er zum Glück. Und so habe ich im Herbst 2004 plötzlich gleich viermal Ferien. Nebst den drei „ausländischen“ Champions League-Auftritten muss natürlich auch noch der Fulehung gefeiert sein.
An diesem gar nicht gewöhnlichen Dienstagmorgen geht also die Reise los. Und dies unerwartet hektisch. Ich begehe eine Ultra-Todsünde und lasse meinen Reisestart von der Berner Zeitung protokollieren. Der Grund für meinen spontanen BZ-Auftritt: Der ursprüngliche Bericht über den Münsinger Nick Gast ist über Nacht wertlos geworden, weil der Champions League-Projektleiter vom Verein kalt gestellt wurde. So erzähle ich dem Journalisten Erich Goetschi halt ein paar Fussballweisheiten und lasse mich vom Fotografen Andreas Blatter um 8.32 Uhr beim Einsteigen in die S-Bahn fotografieren. Wobei dies bloss die offizielle Reisezeit ist, in Wahrheit hat die S-Bahn rund fünf Minuten Verspätung.
Am Bahnhof in Thun trifft sich die Generator-Reisegruppe, so getauft wegen der gleichnamigen Unterkunft in London. Eine erste Runde Bier im Bahnhofbuffet muss natürlich sein, wobei die Runde wegen der schwerhörigen alten Serviertochter teurer wird als eigentlich geplant. Die serviert nämlich auch Michu ein Bier, obwohl der gar nichts trinken wollte und behauptet felsenfest, einer seiner Kumpels habe das bestellt. Eine schäbige Verkaufstaktik so früh am Morgen.
Diese Zugreise nach Basel steht unter dem Motto „Mord und Totschlag“, da Sanel und Babo aus ihrem Krankenhaus-Arbeitsalltag erzählen. Bei so vielen blutigen Szenen, welche die beiden schildern, wirken die Tätowierungsstorys von Amador direkt angenehm. Wenigstens dank den grossen Blick-Storys über die Champions League wird der FC Thun in den Gesprächen kurz erwähnt. Aber grundsätzlich gilt: Niemand will so richtig über den Grund der Reise sprechen. Die Nervosität soll wohl nicht unnötig noch grösser werden.
Doch spätestens als wir im Flughafen eine NZZ in die Finger bekommen, ist es vorbei mit aller Stille. Allein der Satz, dass ich 800 Thunfans auf dem Weg nach England befänden, sorgt für einen starken Adrenalinschub – ob diese Aussage nun stimmt oder nicht. Mehrmals spielt Sanel nun auf seinem Handy die Champions League-Hymne ab, ein Hauptgrund, wieso er wegen leerem Akku in London dann kaum erreichbar sein wird.
Der Flug nach London verläuft angenehm und ist beste Werbung für die Swiss. Okay, die Verpflegung ist nicht allzu gut, doch lieber ein trockenes Sandwich als gar kein Gratisessen. „Auf den Flügen nach Bosnien ist das Essen jeweils viel besser“, meint Sanel. „Man muss die Leute aber auch nach Bosnien locken, das ist bei Flügen nach England nicht nötig“, lästere dagegen ich. Womit das natürlich nur ein kleines Spässchen ist, ich Wirklichkeit bin ich ein Liebhaber aller Bosnier. Oder zumindest ein Liebhaber von Sanel, denn schliesslich sind wird beide gemäss Internettest je 35 Prozent schwul.
Nach der Landung vergeht mir das Herumalbern aber rasch. Grund ist der Transfer in die Innenstadt. Da haben wir extra bei Ferieninsle-Roger einen teureren öV-Dreitagespass gekauft (48 statt 32 Franken), damit wir nicht zusätzlich für die Fahrt vom Airport London-City in die wahre London City bezahlen müssen. So könnten wir x-mal gratis mit der U-Bahn zum Flughafen Heathrow fahren, für den Shuttle Bus hier ist der Pass jedoch nicht gültig. Das ist doppelt ärgerlich, weil eine Shuttle Bus-Fahrt stolze 6,50 Pfund kostet. Die 13 Pfund-Buskosten sind bei mir denn auch der Hauptgrund, weshalb ich während meinem Londonaufenthalt Geldsorgen habe. Nun merke ich, dass man mit 80 Pfund (190 Franken) in London gar nicht weit kommt.
Immerhin ist die Unterkunft billig – die Generator-Jugendherberge kostet keine 20 Pfund in der Nacht. Dafür herrscht in den 2er- oder 3er-Zimmer Kasernenatmosphäre mit übereinander gestellten Betten und dem Fehlen von Dusche und WC. Aber wir wollen hier ja schliesslich kaum mehr als den alltäglichen Rausch ausschlafen.
Kurz nach der Ankunft geht es jedenfalls schon los Richtung U-Bahn-Station Finsburg Park, gleich neben dem Arsenalstadion. Okay, es gebe auch noch eine etwas nähere Haltestelle namens Arsenal (!), aber etwas Wanderschaft hat noch nie geschadet. Wir haben ein grosses Ziel vor Augen – das Abschlusstraining der Thuner. Das beginnt um 18.00 und ist eigentlich nur für ausgewählte Pressevertreter gedacht. Aber man darf ja noch mal träumen dürfen. Zuerst müssen wir noch draussen warten – Sanel und ich beobachten in dieser Zeit gleich neben dem Stadion begeisterte Kids beim Cricket-Spiel! – bevor die Türe doch noch für uns aufgeht. Und prompt sitzen wir auf der Haupttribüne und beobachten etwa zu zehnt unsere Thuner Jungs beim Einlaufen und munteren Fussballspielen. All das im legendären Highburry, gefilmt von rund zehn Fernsehkameras. Wahnsinn.
Den Abend verbringen wir rund um den Piccadilly Circus, denn wenn wir auch ein ähnlich kleines Budget wie unser Verein haben, hält uns das nicht vom dem teuren Essen ab. Als besonderes Highlight im TG Friday ist der Kellner angefressener Arsenalfan, der eine Weste mit zahlreichen Fussballpins trägt. Selbstverständlich sagt er einen klaren Arsenalsieg voraus. Das Gespräch mit ihm ist auf alle Fälle spannender als das Beobachten des jungen Barkeepers, der fortlaufend den gleichen Flaschen-Becher-Jongliertrick zeigt, wobei die Flasche regelmässig auf den Gummiboden fällt. Cool ist so was noch lange nicht.
Sanel und ich machen nicht nur deshalb mehrere Rauchpausen vor dem Eingang. Fasziniert sehen wir eine Leuchtreklame im Gebäude gegenüber, wo ein historischer Cricketsieg der Engländer bejubelt wird. In einer Strassenumfrage versuchen wir das Historische dieses Sieges herauszufinden, doch erst Mann Nummer 5 weiss Bescheid. England habe erstmals seit 1989 gegen Australien gewonnen, aha! Grund genug zum Fachsimpeln über exotische Sportarten. Meine Erkenntnis dabei: „Jassen ist eine Mischung aus Poker und Cricket. Denn wohl im Jassen, wie auch im Cricket sind die Stöcke wichtig.“
Den Abend beschliessen wir dann aber doch mit Champions League-Fussball. Im TV in der Herberge laufen bis halb 1 die Matchzusammenfassungen. Chelsea, Real, Milan – immer noch kaum zu glauben, dass der FC Thun im selben Wettbewerb spielt. Süsse Gedanken, die eigentlich einen erholsamen Schlaf versprechen, doch dazu nervt das Technogedröhne von unten zu sehr. So stöpsle ich spontan den iPod in die Ohren und schlafe zu Mundartgesängen ein. Es ist acht Stunden Schlaf.
Am nächsten Vormittag ist Sightseeing angesagt. Ich bin mit Urfer junior und Urfer senior unterwegs. Unsere Londongroundhoppingbilanz ist nicht schlecht: Big Ben, Westminster Abbey, Westminster Catedral, Buckingham Palace inklusive Wachablösung, Green Park, Tower und Tower Bridge sowie das berühmte Einkaufszentrum Harrods. Die erste Erkenntnis dabei: London ist teuer und alles kostet immer und überall. Sogar das Liegestuhlsitzen im Green Park – 4 Pfund für 2 Stunden. Die zweite Erkenntnis: Den FC Thun kennt man eigentlich nur im Harrods. Dort wünschen uns Verkäufer wie Kunden Glück. Einen Kunden frage ich: „So, you’re not an Arsenal fan.“ Entsetzt schaut er mich an: „No, it’s rubbish!“
Vor dem Stadion, wo wir etwa um halb Sechs eintreffen, gibt es dann doch bekennende Arsenalfans. Und zu meinem Erstaunen Hunderte Thuner, die teilweise selten zuvor an einem Thunmatch waren. Na ja, Hauptsache die Vorfreude ist bei allen gross. Gross wäre die Lust auf einen Schaltausch. Doch kaum ein Fan trägt einen Schal. So müssen wir uns halt an den Souvenirständen mit Scarfs eindecken. Zudem gibt es bei Strassenhändlern noch verschiedene Kombischals Arsenal-Thun, die begehrten Teile sind alle gefälscht.
Siki investiert dagegen sein Geld in eine gewagte Wette. Bei Hill’s setzt er auf 1-1. Ganz schön gewagt.
Zurück zu den Arsenal-Outfits: Je schöner die Girls, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie in einem Trikot herumlaufen. Man versteckt in England wohl nicht gerne schöne Bodys in einem Trikot.
Bei uns im Sektor gilt aber Rotweiss, kaum einer ist in „zivil“ im Gästeblock. Und noch was… Ich setze meine BZ-Behauptung „Vorne steht der harte Kern – also auch er –, der Stimmung macht“ beherzt um. Selbstverständlich sitze ich nicht in Reihe 24, ich stehe weit vorne gleich hinter der kleinen Mauer. Neben Sanel, Babo und Andy, hier wo’s wirklich laut wird. Schon kurz nach Sieben bekomme ich jedenfalls das erste SMS aus der Schweiz, dass unsere Stimmung nicht zu überhören sei. Während dem Einlaufen dürfen wir aber gar direkt beim Rasen unten steht. Einmal wird gar mit FC Thun-Erlaubnis ein Champions League-Ball herumgereicht. Ein irres Gefühl.
Doch richtig Gänsehaut bekomme ich erst um 19.40, als die Champions League-Fanfare ertönt. Ein grosser Traum wird wahr. Ich habe Tränen in den Augen.
Dann beginnt das Spiel. Jede Szene wird intensiv miterlebt. So irritiert es mich zuerst auch gar nicht, dass die vermeintliche Matchuhr kaum vorwärts läuft. Erst nach einigen Minuten merke ich, dass da ja nicht die Spielzeit angezeigt wird, sondern die Uhrzeit. Bei 8:15 sind also doch schon 30 Minuten gespielt.
Es ist ein hektisches Spiel – mit bösen Szenen und gefährlichen Arsenalspielzügen. Doch die heimischen Fans jubeln lange nicht, erst kurz vor der Pause, als Jakiupovic einen Ball erst nicht fassen kann und er im zweiten Fassversuch von einem Engländer samt Ball ins Tor geschoben wird. Zum Glück ein Stürmerfoul.
Immerhin war das noch ein taktisches Foul. Ganz gefährlich ist aber das hohe Bein von Van Persie in der 45. Minute. Übermotiviert kickt er dem erneut sensationell starken Orman mitten ins Gesicht. Der geht mit blutigem Gesicht zu Boden, worauf der polnische Schiedsrichter tatsächlich die Rote Karte zückt. Der Sünder muss vom Platz, was für ein Erfolgserlebnis für den FC Thun. Freudig halte ich meine Gelbe Karte-Rote Karte-Kartons in die Luft. Das Buhen der Arsenalfans ist bei dieser Szene und vor allem beim Pausenpfiff natürlich riesig.
In der Pause ist Ausatmen wichtig, sehr gross sind die Emotionen. So beobachte ich ein wenig die SFDRS-Spielanalyse von Martin Salzgeber und Karlheinz Riedle, die in einem Nebenraum hinter Glas angeregt diskutieren. Prompt erhalte ich SMS aus der Schweiz, ich solle mich doch aus dem Bild bewegen.
Halbzeit Zwei beginnt mit einem lauten Buhen gegen den Schiri und Orman, der nun einen Verrband-Turban am Kopf trägt. Er will ebenso weiterkämpfen wie die anderen Thunspieler. Bei spielerischer Überzahl liegt ja wirklich was drin.
Nach 50 Minuten dann aber der Schock. Gilberto erzielt per Kopf das 1-0. „Who are you“, singen die Arsenalfans schadenfreudig. Sie rechnen mit einer Vorentscheidung, wenn denn das nicht gleich die Entscheidung ist. Doch die Thuner kämpfen weiter mit Mut. Sie sind am Ball, plötzlich auch Ferreira, der kurz nach dem 1-0 ein absolut geniales Traumtor erzielt. Kaum zu beschreiben, auf welche irre Weise dieser wichtige Treffer im Tor landet. Wir kennen im Thunsektor jedenfalls kein Halten mehr und springen wild herum. Die Securitys drücken dabei selbst beim Ordnerwegschubsen ein Auge zur. Nur ein deutscher Kollege, der stur diese wilden Szenen fotografieren will und den Durchgang blockiert, kassiert dummerweise ein Stadionverbot. Schade, denn er verpasst ein nun grossartiges Spiel, das aber klar von Arsenal dominiert wird. Doch auch die Thuner haben einige wenige Konterchancen, Toreschiessen sollte eigentlich jedes der Teams. Doch es bleibt beim 1-1 – bis weit in die Nachspielzeit hinein. Da fasst sich der nicht ganz unbekannte Einwechselspieler Bergkampf ein Herz und knallt den Ball doch noch ins Tor. 2-1, das Ende vom Punktetraum. Und Siki ärgert sich zusätzlich zum Niederlagenfrust über das verlorene Wettgeld.
Wir wären aber keine Thunfans, wenn wir nicht trotzdem feiern würden. Ein erstes Indiz dafür: Die Thuner Mannschaft kommt sich bei uns bedanken, das Arsenal-Team geht umgehend in die Kabine.
Die eigentliche Party der Fans steigt nahe der King’s Cross-Station in einem stilvollen Pub namens Sahara Nights. Gut gelaunt wie ich dank dem guten Thuner Auftritt bin, groove ich gar bei den Hip Hop-Reimen mit. Doch bald werden wieder Fangesänge angestimmt.
Spät am Abend ist dann noch das Soho-Quartier unser Ziel. Doch Ideengeber Andy erweist sich irgendwie als schlechter Reiseleiter, denn erst irren wie herum und dann entpuppt sich das Soho-Nachtleben als wenig spektakulär. Und bei dem von uns auserkorenen Nachtclub „Freedom“ kennt der Türsteher keine Gnade. „Too casual“, meint er zu unserem Outfit und lässt uns nicht rein. So irren wir von der Generator-Gruppe um zwei Uhr halt wieder zurück in die Herberge, während Andy im Taxi in die andere Richtung fährt.
Um viertel vor Drei ist Nachtruhe im Zimmer 331, um viertel vor Fünf ist Tagwache im Zimmer 331. Anders bei Tom, Kusü und Laura – die kommen nämlich wegen einem technischen Defekt an der Türautomatik gar nicht mehr ins Zimmer. Diese Panne erweist sich als so schwerwiegend, dass Mitarbeiter der Jugendherberge die Türe schliesslich aufbrechen. Ganz schön krass.
Und noch ein anderes Problem. Wem gehört der Fotoapparat mit den zahlreichen Thun-Fotos, der beim Eingang aufgefunden wurde. Es ist der von Andy. Und nicht nur das – er hat in einem Plastiksack, den er Sanel abgegeben hat, seinen Pass drin stecken. Das Werweissen beginnt, ob er denn eine ID bei sich hat oder ob er seinen Londonaufenthalt unfreiwillig verlängern muss. Während Stunden meldet er sich nicht – bis er schliesslich per Handy mit dem Satz „Ich habe eine ID“ für ein Aufatmen sorgt. Da sind wir nach einem angenehmen Flug längst in der Schweiz. Mein erster Satz in der Landung gilt Sanel. „So, jetzt bist du wieder der einzige Ausländer.“ Was natürlich auch wieder nur ein kleines Witzchen unter Freunden ist, die sich nicht nur rund um die Gay’s the word-Buchhandlung gut verstehen…
Bald sitzen wir im Schweizer Flughafenshuttle, der zum Glück gratis ist und an so interessanten Stätten wie dem Brausebad hält. Ziel ist der Bahnhof Basel und der Zug nach Thun. Und wer sehen wir da auf dem Perron stehen: Lydia. Womit auch irgendwie auf der Fanfahrt dabei gewesen ist. Um die Zahl der 800 London-Thunfans noch etwas für die Statistik zu erhöhen, macht Sanel Fotos von begeisterten Thun-Sympathisanten. Die beiden Flight Attendants machen im Bus ebenso mit wie der Wägelima und die beiden Kondukteuere im Zug. Nur unsere Aebikurve-Fans schlummern leise vor sich hin.
Ich wechsle dann in Bern in die S-Bahn nach Münsingen. Hier erwartet mich nun keine Presse mehr. Immerhin nimmt aber eine BLS-Mitarbeiterin für eine Kunden-Stichprobe meine Route auf. „London-Münsingen“ erkläre ich ihr. Es sind die Eckdaten einer Reise, die Spass gemacht hat.

Matthias Engel