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Thun - Dynamo Kiew 1-0
03.08.2005Champions League 2005/2006


Es ist ein Abend voller Gänsehautmomente. Kevin, Marco und ich fühlen uns richtig wichtig, als wir um 18.50 in Münsingen in einen Extrazug ohne Halt bis Bern Wankdorf einsteigen können. Dass die aus Thun kommende BLS-Komposition hilflos überfüllt ist, ist für einmal ein positives Zeichen. Die Fahrt dauert zwar nur zehn Minuten, doch diese Minuten werden in der grossen Vorfreude auf den Einmarsch in Bern schier zu Stunden. Ähnlich langsam wird der Uhrzeiger nur noch während dem Match voranschreiten.
Dann sind wir da, in „Bern Wankdorf“ oder besser gesagt in „Thun Wankdorf“, wie heute Morgen ein paar Kleber bereits den Pendler verrieten. Überall Rot-Weiss, hunderte Fans stehen vor dem Stadion oder versuchen in der Tankstelle trotz langer Warteschlange noch ein letztes richtiges Bier mit Alk zu ergattern. Überhaupt ist vor dem Einlass ins Stadion viel Geduld gefordert. Besonders die Kurzentschlossenen, die noch ein Billett kaufen wollen, sind arm dran. Einmal mehr ist das Stade de Suisse-Ticketing ein einziges Chaos, meist dauert die Wartezeit beim Ticketkauf 90 Minuten.
Etwas schneller kommt man dann ins Stadion, jedenfalls wenn man erst einmal gecheckt hat, wo man denn eigentlich rein muss. Während in Basel grosse rote Buchstaben klar zeigen, wo welcher Sektor ist, muss man in Bern regelrecht mit der Lupe nach den weissen Anschriften suchen. Und dann kommt man dort, wo ein Sektor B-Eingang ist, doch nicht mit einem B-Billett hinein. B12 scheint irgendwie ein VIP-Sektor zu sein, die restlichen B-Fans müssen sich alle am zweiten B-Eingang reinquetschen. 20 Minuten Warten heisst das rund eine Stunde vor Spielbeginn, was aber nicht Anlass zum Murren ist, sondern Zeit lässt für FCT-Wechselgesänge und ein obligates UFFTA.
Im Stadion drin, ist schon das zweite Interview an diesem Abend fällig. Wolle der altbekannte ukraelische Reporter aus Kiew vor dem Stadion bloss eine Resultatprognose wissen – ich tippe selbstbewusst auf 2-0 – will das Duo vom Stadionfernsehen von Kevin uns mir wissen, warum wir eigentlich Thunfans ist. Während ich an 1. Liga-Zeiten erinnere und an den erstaunlichen Wandel, spricht Kevin eher wirr. Aber das ist vielleicht auch nur mein Neid: Denn Kevins Interview wird später auf der Stadionleinwand gezeigt, meine Worte bleiben verschollen.
In der Fankurve herrscht schon Hektik. Die letzten Vorbereitungen für die Choreo laufen, bei so viel Raum und Menschen nur mit Megaphon zu koordinieren. Schliesslich werden die Plastikbänder aufgezogen: „Seit mehr als 100 Jahren“. Einfach wow! Danke Andy.
Und schon gibt es eine erste Standing Ovation im Stadion, die Mannschaften laufen ein. Über 25'778 Zuschauer sind bestens gelaunt und hoffen auf einen spannenden und erfolgreichen Fussballabend. Es ist ein dankbares Publikum, alle sind froh, dass Thun hier überhaupt international und dann erst noch mit guten Erfolgschancen spielen darf. Entsprechend wird Stimmung gemacht. Immer wieder hallen „Hopp Thun“-Rufe und „FCT“-Wechselgesänge durchs ganze Stadion. Standing Ovations gibt es mehrmals während den 90 Spielminuten, auch die Welle geht mehrmals durchs Stadion. Erstmals in der 40. Spielminute. In der Fankurve herrscht sowieso 90 Minuten Dauersupport. Aussagen von Live-Fernsehkommentator Dani Wyler wie „Und schon steht das ganze Stadion auf und ist noch besser zu sehen - ganz toll die Stimmung hier“ geben an diesem Abend in der ganzen Fussballschweiz zu reden. Ist er wirklich so leicht zu begeistern oder können die peinlichen Thunfans doch Stimmung machen?
Das Spiel ist eine eigentliche Achterbahn der Gefühle. Ein 0-0 reicht ja zum Weiterkommen, aber ein einziges Kiewtor könnte sogleich das Ausscheiden bedeuten. Thun spielt daher eher abwartend, das Spiel muss Kiew machen. Doch die starten schwächer als im Hinspiel, die Ballstafetten verlieren sich meist vor dem Strafraum. Wirkliche Torchancen hat Kiew in der ersten Halbzeit keine. Die Thuner stehen gut und sind phasenweise minutenlang im Ballbesitz.
Nach der Pause gehen die Kiewer mehr Risiko ein. Ihre Abschlüsse kann man nun als Torchancen bezeichnen, doch ergeben sich dadurch auch gute Konterchancen für die Thuner. Lange, viel zu lange bleibt es aber 0-0. In den Schlussminuten drücken dann die Ukrainer gnadenlos. Und doch gibt es nur zwei, ja vielleicht drei wirklich 100 prozentige Torchancen von Dynamo Kiew. Es ist schliesslich der wenige Augenblicke zuvor eingewechselte Tiago, der in der Nachspielzeit im gegnerischen Strafraum am richtigen Ort das richtige macht. Er köpfelt zum 1-0 ein. Nun hält es niemandem mehr auf dem Platz im Stade de Suisse, denn damit ist der FC Thun eine Runde weiter. Zwei Tore schiesst Kiew nun sicher nicht mehr, viel mehr setzten sie den Schlusspunkt mit einer völlig unnötigen und unsportlichen Rote Karte.
Nun können die Thunfans also den Einzug in die 3. Qualifikationsrunde feiern. Und wie gefeiert wird. Der Lärm im Stade de Suisse ist ohrendbetäubend, am Bahnhof und im Extrazug wird weitergefeiert. Und in der Thuner Innenstadt gibt es bis nach Mitternacht ein lautes Autohupkonzert mit tumultartigen Szenen.
Höhepunkt der Feierlichkeiten ist aber die Ankunft des Mannschaftscar auf dem Thuner Rathausplatz. Hunderte Fans warten um 0.45 auf die Spieler. „Wär nid gumpet, isch ke Thuner“ tönt es aus allen Kehlen. Und ganz Thun scheint zu hüpfen Stimmung wie es sie in Thun sonst nur am Fulehung gibt.
Um halb Zwei drängt dann die Zeit, es muss eine Beiz gefunden werden, welche die Matchwiederholung zeigt. Im El Camino können wir uns tatsächlich vor eine Grossleinwand setzen und noch einmal alle entscheidenden Spielszenen analysieren. Na ja… eigentlich fiebern wir mit wie im Stadion. Kiewschwalben und Fehlentscheidungen des Schiedsrichters werden fast so böse kommentiert wie Stadion. Der eigentliche Unterschied zum Liveerlebnis im Stadion ist einfach die Tatsache, dass die Matchuhr hier etwa zehnmal schneller läuft. Alle warten wir auf die 91. Minute. Gross ist der Jubel beim Tiago-Tor, dass nicht noch mehr Biergläser zu Bruch gehen, grenzt da an ein Wunder.
3.30 ist nun, der Mühleplatz leert sich nun endgültig. Die kurzfristige Freinacht ist halt doch noch fertig. Was solls, zumindest Sanel, Marco und ich haben genügend Ausdauer bis 4.30, wenn bis dem Bahnhof-Takeaway schon wieder die erste Beiz öffnet. Und dort lesen wir ohne geschlafen zu haben schon die Zeitungen vom Morgen. „1:0 Sieg - Thun wirft Favorit Dynamo Kiew raus“ oder „Das Märchen geht weiter“ steht da. Wie wahr. Um 7.00 schreibe ich schon ein Mail an den Chef, dass ich am Dienstag unbedingt für die Malmö-Reise freibekommen muss. Dann geht’s endlich ins Bett. Geweckt werde ich gegen 11.00 von einem Tele Bärn-Reporter. Er möchte von mir einen süffisanten Kommentar zum miserablen Stade de Suisse-Ticketing hören. Ich lehne seinen Interviewwunsch ab. Wir Thuner sind zwar so frech und jagen den Stadtbernern zumindest vorübergehend den Stadion- und Stimmungsrekord ab, das Recht auf Peter Jauch-Kritik gehört aber ihnen allein. Zumal… ohne Peter Jauch kein Stade de Suisse – ohne Stade de Suisse kein zweites Wunder von Bern.

Matthias Engel